+ Reintegration benachteiligter Zielgruppen in den Arbeitsmarkt

Sandra-Neumaier_Coachingprozess

Im Rahmen meines Psychologie Studiums habe ich mich intensiv mit diesem Thema befasst. Inhaltlich werden verschiedene Ansätze näher beleuchtet, darunter sozialpsychologische Modelle, gesellschaftskritische Modelle, Empowerment Ansätze, lerntheoretische Ansätze, sowie psychotherapeutische Ansätze.

Mein eigener Ansatz beruht auf Basis der Neuen Menschenrechte nach Jean-Pol Martin.

1.Einleitung

Die Reintegration benachteiligter Zielgruppen in den Arbeitsmarkt stellt in Zeiten des Fachkräftemangels eine wichtige gesellschaftliche Herausforderung dar. Im Rahmen meiner Tätigkeit als freiberuflicher Coach bei einem Bildungsträger im Auftrag der Bundesagentur für Arbeit und des Jobcenters stoße ich immer wieder auf die Thematik, dass insbesondere Arbeitssuchende, die unter psychischen Erkrankungen leiden, oft mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert sind. Die Bedeutung eines strukturierten und methodisch fundierten Prozessablaufs für den Vermittlungserfolg dieser Zielgruppen ist daher von großer Relevanz.

Im theoretischen Hintergrund werden relevante theoretische Konzepte und Modelle im Bereich der Beratung und Reintegration von benachteiligten Zielgruppen vorgestellt. Dabei werden sozialpsychologische Modelle, gesellschaftskritische Modelle, Empowerment-Ansätze, lerntheoretische Ansätze und psychotherapeutische Ansätze betrachtet. Diese Modelle bieten einen theoretischen Rahmen, um die Bedeutung eines strukturierten und methodisch fundierten Prozessablaufs für den Vermittlungserfolg zu verstehen. Zudem wird in diesem Abschnitt mein eigener Ansatz, der eine Mischform darstellt, näher erläutert.

Die vorliegende Arbeit liefert wichtige Erkenntnisse für die Praxis der Beratung und Unterstützung von Arbeitssuchenden mit und ohne psychische Erkrankungen.

2. Theoretischer Hintergrund

2.1 Sozialpsychologische Modelle

Diese Modelle beschäftigen sich mit der Rolle von sozialen Faktoren bei der Entstehung und Bewältigung von Benachteiligung. Sie untersuchen, wie soziale Identität, Stereotypisierung und Vorurteile die Integration von benachteiligten Zielgruppen in den Arbeitsmarkt beeinflussen können. Hierbei ist zum einen die Theorie der sozialen Identität als auch die Diskriminierungsforschung relevant.

Die Theorie der sozialen Identität, entwickelt von Henri Tajfel und John C. Turner, untersucht die psychologischen Prozesse, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Gruppenidentitäten führen. Sie betont die Bedeutung der sozialen Kategorisierung, sozialen Identität, sozialen Vergleiche und sozialen Distinktheit. (vgl. Tajfel & Turner 1979).

Die sozialpsychologische Diskriminierungsforschung beschäftigt sich mit der Identifikation mit Bezugsgruppen und der Adaption sozialer Vorurteile. Sie untersucht, wie Diskriminierung und Vorurteile die Integration von benachteiligten Zielgruppen beeinflussen können. Neben dem US-Amerikanischen Psychologen Gordon W. Allport sind hier auch Tajfel und Turner als Pioniere zu nennen.

Beide Modelle stammen aus der Sozialpsychologie und beschäftigen sich mit verschiedenen Aspekten von Benachteiligung bestimmter Gruppen. Ein besseres Verständnis für die Wirkmechanismen (wie z. B. die Bedeutung von Vorurteilen und Stereotypen) können bei der Reintegration dieser Gruppen unterstützen. Sie können auch dazu beitragen, Strategien zu entwickeln, um Diskriminierung zu reduzieren.

2.2 Gesellschaftskritische Modelle

Diese Modelle kritisieren bestehende gesellschaftliche Strukturen und Institutionen, die zur Benachteiligung von bestimmten Gruppen führen können. Sie fordern eine Veränderung dieser Strukturen und eine stärkere Einbeziehung von benachteiligten Zielgruppen in Entscheidungsprozesse.

Im Wesentlichen ist hier die kritische Theorie und die feministische Theorie zu nennen: Die kritische Theorie untersucht die Rolle von Macht und Herrschaft in der Gesellschaft und betont die Bedeutung von sozialer Gerechtigkeit und Emanzipation. Sie kritisiert bestehende Strukturen und Systeme, die zur Benachteiligung von bestimmten Gruppen führen können.

Die feministische Theorie untersucht die Rolle von Geschlecht und Gender in der Gesellschaft und betont die Bedeutung von Geschlechtergerechtigkeit und Emanzipation. Sie kritisiert bestehende Strukturen und Systeme, die zur Benachteiligung von Frauen und anderen marginalisierten Geschlechtern führen können.

Diese Modelle bieten theoretische Ansätze, um die strukturellen und systemischen Ursachen von Benachteiligung zu verstehen und mögliche Ansatzpunkte für die Beratung und Unterstützung von benachteiligten Zielgruppen zu identifizieren.

Sowohl die sozialpsychologischen als auch die gesellschaftskritischen Modelle sollen nicht im Fokus dieser Arbeit stehen, jedoch der Vollständigkeit halber erwähnt werden.

2.3 Empowerment Ansätze

Diese Ansätze zielen darauf ab, die Selbstbestimmung und Handlungsfähigkeit von benachteiligten Zielgruppen zu stärken. Sie setzen auf eine aktive Beteiligung der Betroffenen an Entscheidungsprozessen und eine Förderung ihrer Ressourcen und Fähigkeiten.

Der Empowerment Ansatz an sich stammt ursprünglich aus der Bürgerrechtsbewegung der 1950 Jahre in den USA. Kennzeichnend für diese Bewegungen, z. B. die schwarze Bürgerrechtsbewegung und die Frauenbewegung, ist die Erfahrung der Diskriminierung und der Vorenthaltung von Bürgerrechten, von gesellschaftlicher Ohnmacht und mangelnder Wertschätzung. Ins Deutsche wird Empowerment häufig mit „Selbstermächtigung“ übersetzt. Es ist die Erfahrung der ehemals ohnmächtigen und marginalisierten Personen und Gruppen gemeint, die durch gemeinsames (politisches) Handeln Kräfte freisetzen und damit wieder handlungsfähig und „mächtig“ werden. In den 1990iger Jahren hat die Bewegung Einzug in die Pädagogik erhalten. Hier wurde vor allem im Bereich der Inklusion und der Sozialpädagogik weiter mit diesem Ansatz gearbeitet. Die Hilfe zur Selbsthilfe sowie ein größtmögliches Maß an Selbstbestimmung sind dabei von großer Bedeutung. (vgl. Lindmeier, B. et. al. 2020).

„Wesentlich ist der dialektische Grundgedanke des Empowerment-Konzepts: Menschen sind in der Regel in der Lage, ihr Leben ohne organisierte soziale Unterstützung zu gestalten. In sozial randständigen Lebenslagen wird diese Fähigkeit jedoch durch mangelnde Gestaltungsspielräume beeinträchtigt oder kann sich nicht entwickeln. Psychosoziale Hilfen, die zur Unterstützung von Menschen in Bedarfslagen entwickelt werden, unterstützen diese Menschen zwar, nehmen ihnen aber zugleich ihre Autonomie, machen sie abhängig und verstärken damit ihre Hilfsbedürftigkeit (vgl. Rappaport 1985). Die Intention des Empowerment-Konzepts ist es hingegen, Menschen so zu unterstützen und zur Selbsthilfe anzuregen, dass sie power (Macht, Kraft) gewinnen und unabhängiger von Unterstützung werden. Die dialektische Grundorientierung des Empowerment- Konzepts geht daher von einem Spannungsverhältnis zwischen Selbst- und Fremdbestimmung, Autonomie und Abhängigkeit aus. Individuen wie auch Gruppen in benachteiligten Situationen sollen mittels ihrer eigenen Stärken und auf der Grundlage gleicher Rechte ihr Leben »in die eigene Hand nehmen« können. Empowerment wendet sich also gegen paternalistische, bevormundende Hilfe in einem wohlfahrtsstaatlichen »Bedürftigkeits- und Abhängigkeitsmodell«, ohne die Angewiesenheit auf Unterstützung in diesem Prozess auszublenden.“ (Lindmeier, B. et. al. 2020).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass diese Ansätze darauf abzielen, Menschen zu befähigen, ihre soziale Lebenswelt und ihr Leben selbst zu gestalten. Es beschreibt Mut machende Prozesse der Selbstbemächtigung, in denen Menschen in Situationen der Machtlosigkeit und Ohnmacht ihre Stärken und Ressourcen entdecken und nutzen können. Dies kann auch in kleinen Schritten erfolgen, indem zum Beispiel Alltagskompetenzen aufgebaut und gefestigt werden. Damit werden selbstbestimmte Lebensräume zum Gestalten erschlossen. Empowerment-Ansätze können dazu beitragen, die Selbstwirksamkeit, das Selbstvertrauen und die Alltagskompetenzen von benachteiligten Gruppen zu fördern.

2.4 Lerntheoretische Ansätze

Diese Ansätze gehen davon aus, dass Verhaltensänderungen durch Lernen und Erfahrung möglich sind. Sie setzen auf eine gezielte Förderung von Fähigkeiten und Kompetenzen, um z. B. die Integration von benachteiligten Zielgruppen in den Arbeitsmarkt zu erleichtern.

Die lerntheoretischen Ansätze habe eine lange Tradition in der Psychologie und gelten bis heute als Grundlagenwissen in der allgemeinen Psychologie. Die ersten Ansätze hierzu sind im Behaviorismus in den 1920er und 1930er Jahren zu finden. Vorreiter auf diesem Gebiet waren Iwan P. Pawlow und John B. Watson mit ihren Modellen zur Konditionierung (klassische und operante) sowie B. F. Skinners 4-Felder Schema zur Verstärkung und Bestrafung.

Die Entstehung des Neobehaviorismus begann Ende der 1920er Jahre und wird auch der kognitive Behaviorismus genannt. Er zieht die vorher ignorierten kognitiven Prozesse in seine Erkenntnisse mit ein. Der kognitive Behaviorismus stellt damit die fließende Grenze zum Kognitivismus (dieser entstand ab den 1950er Jahren) dar. Hier ist vorrangig der kanadische Psychologe Albert Bandura und seine Bobo-Doll Studie aus dem Jahr 1963 zu nennen. Die Begriffe des Lernens durch Beobachtung bzw. Modelllernen wurden durch ihn definiert.

Wichtige Vertreter des Kognitivismus waren Jean Piaget und Lev Vygotsky. Daraus entwickelte sich später der Konstruktivismus als Lernansatz. Jean Piaget und Lev Vygotsky waren auch hier einflussreiche Forscher. Piaget war ein Schweizer Entwicklungspsychologe und einer der einflussreichsten Vertreter des Konstruktivismus. Er untersuchte die kognitive Entwicklung von Kindern und betonte die aktive Rolle des Lernenden bei der Konstruktion von Wissen. Vygotsky war ein sowjetischer Psychologe und ein wichtiger Vertreter des sozialen Konstruktivismus. Er betonte die Bedeutung sozialer Interaktionen und des kulturellen Kontexts bei Lernprozessen und entwickelte das Konzept der Zone der nächsten Entwicklung.

All diese lerntheoretischen Ansätze bieten verschiedene Perspektiven auf Lernprozesse und können dazu beitragen, das Verständnis für die Mechanismen des Lernens zu vertiefen und effektive Lernstrategien zu entwickeln. Damit kann die Beratung und Reintegration von benachteiligten Zielgruppen verbessert werden.

2.5 Psychotherapeutische Ansätze

Diese Ansätze setzen auf eine gezielte Behandlung von psychischen Erkrankungen, die die Integration von benachteiligten Zielgruppen in den Arbeitsmarkt erschweren können. Sie zielen darauf ab, die Symptome der Erkrankungen zu lindern und die Selbstwirksamkeit der Betroffenen zu stärken.

Auf folgende Ansätze soll in diesem Abschnitt kurz eingegangen werden:

– Psychodynamische Psychotherapie
– Verhaltenstherapie 
– Humanistische Therapie
– Systemische Therapie

Innerhalb der Psychodynamischen Psychotherapieverfahren existieren die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie sowie die analytische Psychotherapie (Psychoanalyse). Die Therapie ist abwartend, begleitend, emphatisch und einsichtsorientiert, weniger lösungsorientiert. Es gleicht einer Suche nach der Ursache, der Wurzel der Probleme in der Vergangenheit der Patienten. Die Psychoanalyse ist eine ältere Form der Psychotherapie und geht davon aus, dass unbewusste Konflikte und Erfahrungen unser Verhalten und unsere Emotionen beeinflussen. Sie setzt an der Analyse von Träumen, Assoziationen und der Beziehung zwischen Therapeuten und Patienten an. Die Psychoanalyse wurde um 1890 von dem Wiener Arzt Sigmund Freud begründet. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist eine Weiterentwicklung der Psychoanalyse und geht davon aus, dass unsere Persönlichkeit und unser Verhalten von unbewussten Konflikten und Erfahrungen geprägt sind. Sie setzt an der Analyse von Beziehungen und der Verarbeitung von Emotionen an. (vgl. Wiegand Grefe 2018).

Die psychodynamischen Psychotherapieverfahren können bei verschiedenen psychischen Erkrankungen eingesetzt werden, wie z. B. Depressionen, Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen, Posttraumatische Belastungsstörungen und Zwangsstörungen. Die Dauer der psychodynamischen Psychotherapie kann je nach Art und Schwere der psychischen Erkrankung und individuellen Bedürfnissen des Patienten variieren. In der Regel dauert die Therapie jedoch länger als andere Formen der Psychotherapie, wie z.B. die Verhaltenstherapie. Oft werden mehrere Sitzungen pro Woche über einen Zeitraum von mehreren Monaten bis Jahren durchgeführt. (vgl. Jaeggi 2018).

Die Verhaltenstherapie beschäftigt sich mit Lernprozessen und dysfunktionalen Kognitionen (Denkfehlern), die Störungen entstehen oder aufrechterhalten lassen und das Verhalten stark beeinflussen. Die Grundidee lautet: Störungsbedingtes Verhalten wurde erlernt und kann wieder verlernt werden. Hier finden sich viele lerntheoretische Ansätze wieder. Dabei ist z. B. die 2-Faktorentheorie nach Murray zu nennen. Diese bezieht sich auf die Motivation von Menschen und wurde von dem US-amerikanischen Psychologen Henry A. Murray entwickelt. Die Theorie besagt, dass die Motivation von Menschen durch zwei Faktoren beeinflusst wird: Bedürfnisse und Anreize.

In der Verhaltenstherapie wird mit beobachtbarem Verhalten gearbeitet, immer unter Berücksichtigung naturwissenschaftlicher, empirischer Grundlagentheorien aus der allgemeinen Psychologie. Die Verhaltenstherapie geht davon aus, dass die Probleme sichtbar an der Oberfläche im Bewusstsein und damit in der Gegenwart liegen. Es wird lösungsorientiert gearbeitet. Ziel ist dabei zunächst die Reduktion der Symptomlast, später kann auch einsichtsorientiert an der Wurzel des Problems gearbeitet werden. Selbsterkenntnis und Selbstmanagement werden hier als Ziele definiert. Die Verhaltenstherapie hat ihre Wurzeln in der experimentellen Psychologie und wurde in den 1950er Jahren entwickelt. Die Verhaltenstherapie kann bei verschiedenen psychischen Störungen eingesetzt werden, wie z. B. Angststörungen, Depressionen, Suchterkrankungen oder Essstörungen. Die Behandlung kann in verschiedenen Formen angeboten werden, z. B. als Einzeltherapie, Gruppentherapie oder Online-Therapie. Die Dauer hängt dabei von der Art und Schwere der psychischen Störung ab und wird individuell angepasst. (vgl. Florin 2020).

Die Humanistischen Therapie ist die dritte Kraft der Psychotherapie und hat ihre Ursprünge in den USA im 2. Weltkrieg. 1960 fand sie ihren Weg nach Europa. Der Begriff stammt vom Wort „Humanitas“ ab, was Menschlichkeit bedeutet. Abraham H. Maslow, ein US-amerikanischer Psychologe und Gründervater der Humanistischen Psychologie führte den Begriff Positive Psychologie ein und ist bekannt für seine Bedürfnispyramide. In der Humanistischen Therapie sind viele psychoanalytische Grundelemente vorhanden. Die Kernfrage lautet: Was macht einen gesunden Menschen aus? Bei dieser Therapieform geht es um den Menschen, nicht um das Problem. Deshalb wird hier der Patient auch Klient genannt. Die Therapie basiert auf einem positiven und ressourcenorientierten Menschenbild. Damit hat sie ihre Schwierigkeiten mit den ICD10 Störungsklassen als Diagnoseinstrument, weshalb diese Therapieform in Deutschland bis heute kein anerkanntes Richtlinienverfahren ist und deshalb nicht von den Krankenkassen übernommen wird. Die humanistische Therapie geht davon aus, dass jeder Mensch eine Aktualisierungstendenz (Selbsterhaltung und Weiterentwicklung) in sich trägt. Menschen wollen sich und ihre Fähigkeiten auf positive Weise weiterentwickeln. Sinn und Ganzheit sowie Einzigartigkeit des Menschen stehen im Vordergrund. Der Mensch ist nicht vom Unbewussten fremdbestimmt, sondern „Herr im eigenen Haus“ und hat es selbst in der Hand zu seiner Ganzheit zu finden. Körper und Geist sind abhängig voneinander und beeinflussen sich gegenseitig. Der Mensch ist ein soziales Wesen und hat das starke Verlangen von seinem Umfeld integriert und wertgeschätzt zu werden. Störungen entstehen durch inkongruente Bedürfnisse im Menschen sowie durch die Gesellschaft, die den Menschen an seiner Entfaltung hindert.

Die Therapeuten begleiten dabei in die eigene schöpferische Kraft zu kommen und Sinn und Selbstverwirklichung zu erfahren. Ein gesunder Mensch wird anhand drei Aspekten definiert: Lebendigkeit, Spontanität und Ausdruckskraft. Es ist eine große Vielfalt von Verfahren vorhanden, die bekannteste ist die Gesprächspsychotherapie nach Carl Roggers, auch klientenzentrierte Therapie oder personenzentrierte Therapie genannt. Im Zentrum der Therapie sind die Heilungskräfte des Menschen, die gefördert werden sollen.

Empathie, Kongruenz und Wertschätzung gelten als Basis der Therapie. Diese Therapieform gilt als sehr wirksam bei Lebenskrisen, kann aber auch bei vielen anderen psychischen Erkrankungen eingesetzt werden. Die Dauer der humanistischen Therapie kann je nach Art und Schwere der psychischen Erkrankung und individuellen Bedürfnissen des Patienten variieren. Im Allgemeinen ist die humanistische Therapie jedoch kürzer als andere Formen der Psychotherapie, wie z.B. die psychodynamische Psychotherapie. Oft werden wöchentliche Sitzungen über einen Zeitraum von einigen Monaten bis zu einem Jahr durchgeführt. (vgl. Florin 2020).

Die Systemische Therapie entstand 1950 in USA und war bis 2020 kein kassenärztliches Verfahren in Deutschland. Im Fokus steht die Betrachtung des Menschen im Kontext der Systeme, in denen er sich bewegt (Familie, Arbeit, Schule…). Die Wechselwirkungen zwischen dem Betroffenen und seinem Umfeld stehen im Mittelpunkt der systemischen Therapie. Ein zentraler Aspekt der systemischen Therapie ist die Einbeziehung weiterer Mitglieder des für den Patienten relevanten sozialen Umfeldes in die Behandlung. Dies ermöglicht eine ganzheitliche Betrachtung und Berücksichtigung der Interaktionen und Dynamiken innerhalb des Systems. Durch die Arbeit mit dem gesamten System können positive Veränderungen angestrebt und unterstützt werden.

Die Grundhaltung dieser Therapieform ist positiv, man geht davon aus, dass der Mensch alles in sich hat, um wieder gesund zu werden. Dabei wird lösungs- und ressourcenorientiert gearbeitet. Die Hilfe zur Selbsthilfe steht im Vordergrund. Der Grundgedanke lautet: Jeder Mensch hat seine eigene Wirklichkeit und Wahrnehmung, es gibt keine objektive Betrachtung der Welt. Das Vorgehen ist integrativ, es wird weniger pathologisch gearbeitet, immer nach dem Motto: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“.

Die Methodenauswahl ist sehr vielfältig, weshalb die systemische Therapie bei verschiedenen psychischen Erkrankungen und Problemen eingesetzt werden kann, wie z. B. bei Beziehungsproblemen, Familienkonflikten, Suchterkrankungen, Essstörungen, Depressionen und Angststörungen. Sie kann auch in der Paartherapie, Familientherapie und Gruppentherapie angewendet werden. Die Dauer der Systemischen Therapie ist unterschiedlich, es gilt die Regel: so kurz wie möglich, so lang wie nötig.

Die Mailänder Schule ist eine Richtung der systemischen Therapie, die in den 1970er Jahren in Mailand entstanden ist. Die Begründer der Mailänder Schule waren Mara Selvini Palazzoli, Luigi Boscolo, Gianfranco Cecchin und Giuliana Prata. Die Mailänder Schule hat einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der systemischen Therapie geleistet und hat sich auf die Arbeit mit Familien und Paaren spezialisiert. Die Mailänder Schule betont die Bedeutung von Sprache und Kommunikation in der Therapie. Sie geht davon aus, dass Sprache und Kommunikation die Realität konstruieren und dass Probleme in der Kommunikation zu psychischen Störungen führen können. Die Therapie zielt darauf ab, die Kommunikation innerhalb der Familie oder des Paares zu verbessern und neue Perspektiven zu eröffnen. Die Mailänder Schule hat einen wichtigen Einfluss auf die systemische Therapie und die Psychotherapie im Allgemeinen gehabt. Sie hat dazu beigetragen, die Bedeutung des sozialen Kontextes bei der Entstehung und Behandlung von psychischen Störungen zu betonen und neue Methoden und Techniken zur Verbesserung der Kommunikation und Interaktion innerhalb von Systemen zu entwickeln. (vgl. von Sydow et. al. 2006).

2.6 Mein Ansatz

Mein Ansatz zur Reintegration benachteiligter Zielgruppen in den Arbeitsmarkt ist bedürfnisorientiert und besteht aus verschiedenen Elementen. Es handelt sich um eine Mischform aus lerntheoretischen Ansätzen, Empowerment Ansätzen sowie einiger Methoden aus der Psychotherapie, vorwiegend der humanistischen Therapie und der Verhaltenstherapie.

Die Basis meines Prozesses bildet das Wissen um die sechs Grundbedürfnisse der Menschen. Hierbei stütze ich mich auf das Programm der „Neuen Menschenrechte“ nach Prof. Dr. Jean-Pol Martin.

Martin war von 1980 bis 2008 Französischdidaktiker an der Universität Eichstätt- Ingolstadt und steht hinter dem pädagogischen Konzept Lernen durch Lehren (LdL), das an Schulen und Hochschulen Lernerfolge durch starke Eigenbeteiligung der Lernenden erzielt und weltweit bekannt ist. Er promovierte 1985 in Gießen und habilitierte 1994 in Eichstätt. 2000 wurde er zum Professor ernannt. Seit 2016 ist Martin bestrebt, die Menschenrechte ohne metaphysischen Bezug zu begründen und an den Bedürfnissen zu orientieren. Die „Neuen Menschenrechte“ enthalten einen anthropologischen, einen ethischen und einen politischen Teil, auf folgende Bedürfnisse aufbauend: 1. Denken, 2. Gesundheit, 3. Sicherheit, 4. soziale Einbindung, 5. Selbstverwirklichung und Partizipation, 6. Sinn. Das Programm steht auf einer bedürfnistheoretisch und kognitionspsychologisch fundierten wissenschaftlichen Grundlage mit über 40 Jahren Forschung. Es stützt sich auf ein exakt definiertes Menschenbild mit den sich daraus ergebenden 6 Menschenrechten. (vgl. Martin 2023).

Sandra-Neumaier_neue Menschenrechte nach Jean-Pol Martin
neue Menschenrechte nach Jean-Pol Martin

Abbildung 1: Neue Menschenrechte von Jean-Pol Martin (Martin 2020)

„Es ist weltweit dafür zu sorgen, dass Lebewesen alle ihre Potentiale zur Entfaltung bringen können. Dabei ist schonend mit der Natur umzugehen. Die Entfaltung des Einzelnen kann nur im Rahmen der ihn umgehenden Strukturen erfolgen. Es muss die Möglichkeit bestehen, Einfluss auf diese Strukturen zu nehmen, also teilzunehmen. Die Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass möglichst viele ihre intellektuellen, emotionalen und materiellen Ressourcen dafür zur Verfügung stellen.“ (Martin 2020, S. 135).

Kontrolle als übergeordnetes Bedürfnis von uns Menschen

„Das Ziel aller Lebewesen ist die Lebenserhaltung. Die Lebenserhaltung beruht auf einer Reihe von Verhaltensweisen und Handlungen, die Kontrolle über das Lebensfeld sichern. Dazu zählt die Versorgung des Organismus mit Energie, die Abwehr von Konkurrenten um Ressourcen, das Treffen von Entscheidungen, die für das aktuelle und künftige Überleben von Bedeutung sind. Alle Kontrollaktivitäten werden über das Nervensystem und das Gehirn gesteuert und koordiniert. Aufgabe des Gehirns ist es, Informationen zu verarbeiten und zu konzeptualisieren. Also zu denken. Die Qualität unseres Denkens ist entscheidend für die Qualität unseres Lebens.“ (Martin 2018, S. 346).

Davon ausgehend lässt sich ableiten, dass Kontrolle zur Lebenserhaltung unbedingt notwendig ist und damit hier als übergeordnetes Bedürfnis angesehen werden soll. Folgende Bedürfnisse lassen sich, am Beispiel der Bedürfnispyramide nach Abraham Maslow (1908 – 1970)dem Bedürfnis nach Kontrolle unterordnen:

Sandra-Neumaier_Bedürfnispyramide nach Maslow

Maslow ́s Modell der Mangel- und Wachstumsbedürfnisse liegt ein optimistisches Menschenbild zugrunde, bei dem das Streben nach Sinnfindung und Selbstverwirklichung als das höchste Bedürfnis eines Menschen anzusehen ist. Die Selbstwirksamkeit und die Selbststeuerung steht im Vordergrund, im Gegensatz zur Freudschen Psychoanalyse, die den Menschen als Opfer seiner unbewussten Triebsteuerung sieht (vgl. Maslow 1981: S. 8).

Mit dem Wissen um diese Theorien beginnt der Coachingprozess mit dem Erstgespräch, bei dem die Klienten ihre Situation ausführlich beschreiben und erklären können. Es geht um die persönliche Geschichte, evtl. vorhandene Erkrankungen und deren Symptome, aktuelle Probleme sowie der aktuelle Stand der Reintegration der Klienten. Nach der Situationsanalyse werden gemeinsam mit den Klienten erste, mögliche Ziele des Coachingprozesses definiert. Diese lassen sich zumeist in drei Phasen einteilen.

Bei der Phase 1 handelt es sich teilweise auch um Akutinterventionen die notwendig werden. Zu den Phase 1 Zielen zählen je nach Ausgangssituation z. B. Anbindung an medizinische Versorgung & Suchtberatung, Anbindung an psychiatrische oder psychotherapeutische Hilfe (stationär und ambulant), sowie Klärung von finanziellen Angelegenheiten oder der Wohnsituation. Hier ist es oftmals wesentlich schnell zu reagieren und praktikable Lösungen zu finden. Mittelfristig geht es dann um die Stabilisation des Erreichten und die Anbahnung langfristiger Lösungen. Im Hinblick auf die Bedürfnisse sind hier vorrangig Artikel 2 Gesundheit sowie Artikel 3 Sicherheit (Einkommen und Wohnen) zu nennen. Zudem wird bereits an dieser Stelle das eigene Denken (Artikel 1) der Klienten wieder verstärkt aktiviert. Das Denken über die eigenen Grenzen und Probleme hinaus ist bei den Klienten zu diesem Zeitpunkt oft nur eingeschränkt möglich, ebenso werden allein meist keine zielführenden Lösungskonzepte mehr entwickelt. Dadurch, dass sie oft schon länger keiner Arbeit nachgehen, keinen Beitrag leisten, kein eigenes Geld verdienen und somit auch nicht für sich selbst sorgen können, schrumpft das Selbstbewusstsein und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten enorm. Die Menschen fühlen sich mehr und mehr hilflos und vor allen Dingen auch nutzlos. Deshalb ist es kurzfristig immer wichtig, diesen Kreislauf zu durchbrechen und schnell erste Lösungen zu finden. Die Menschen erkennen dann, dass sich durch die gemeinsame Arbeit etwas zum Positiven verändert und sie aktiv dazu beigetragen haben (Artikel 5 Selbstverwirklichung & Partizipation sowie Artikel 6 Sinn).

In der Phase 2 setze ich vor allem auch auf die Stabilisierung des bereits Erreichten. Es folgen je nach Bedarf die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, das Herausarbeiten der eigenen Stärken sowie die Erhöhung des Selbstwertes. Hier finden auch Themen wie Selbstbild/Fremdbild, Kommunikation (mit sich und anderen), Wahrnehmung sowie Resilienz und Achtsamkeit ihren Platz. Der Fokus liegt hier auf dem Denken (Artikel 1) sowie dem Umgang mit den eigenen Gedanken und den dahinterliegenden Werten und Glaubenssätzen. Auch das soziale Umfeld (Artikel 4 Soziale Einbindung), indem die Klienten sich bewegen, wird hier näher betrachtet und reflektiert. Die Klienten sind angehalten, aktiv mitzudenken und über verschiedene Methoden die neuen Erkenntnisse anzuwenden und umzusetzen.

In der Phase 3 setze ich weiterhin auf Stabilisierung und darauf, dass die Klienten die Kontrolle über ihre Situation (und damit über ihr Leben) zurückgewinnen können. Hier wird das Gelernte wiederholt und geübt. Regelmäßig werden erlebte Situation gemeinsam reflektiert und besprochen was noch verbessert werden kann. Außerdem wird an dieser Stelle aktiv der Bewerbungsprozess gestartet. Je nach Ausgangssituation wird nach passenden Berufen gesucht, Qualifizierungen und Anerkennungen geprüft, Bewerbungsunterlagen erstellt sowie nach Stellen recherchiert. Ziel ist dabei immer, eine für die Klienten passende und vor allem langfristige Lösung zu finden, die sowohl ihren Talenten, Stärken und Fähigkeiten entspricht, als natürlich auch ihrer Ausbildung, Berufserfahrung und den offenen Stellen am Arbeitsmarkt. Dieser Spagat ist nicht immer einfach zu bewältigen. Jedoch bin ich davon überzeugt, dass Menschen langfristig nur dann erfolgreich und glücklich sein können, wenn sie einer Arbeit nachgehen, die zu ihnen passt und bei der sie ihre Stärken einsetzen können.

Wichtig hierbei ist zu erwähnen, dass nicht alle Klienten alle Schritte des Prozesses benötigen und durchlaufen. Bei einigen Klienten ist es vollkommen ausreichend, den Bewerbungsprozess zu begleiten und zu unterstützen. Andere benötigen zusätzlich Unterstützung in der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und Stärkung des Selbstwertes und wieder andere durchlaufen den kompletten Prozess. Dies wird je nach Klienten und Ausgangsituation individuell entschieden und flexibel sowie bedürfnisorientiert umgesetzt.

Sandra-Neumaier_Coachingprozess
Coachingprozess für die Reintegration in den Arbeitsmarkt

Abbildung 3: Coachingprozess für die Reintegration in den Arbeitsmarkt (eigene Darstellung)

Literaturverzeichnis:

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Martin, J.-P. (2023) in Jean-Pol WordPress Link: https://jeanpol.wordpress.com

Martin, J.-P. (2020). Neubegründung und Reformulierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte? In: Kolbe S. W., Martin, J.-P., Ruep M. (Hg.): „Neue Menschenrechte?“ Bestandsaufnahme eines bedürfnisorientierten Handlungsansatzes. Deutschland: Gabriele Schäfer Verlag, S. 109 – 148

Martin, J. P. (2018). Lernen durch Lehren: Konzeptualisierung als Glücksquelle. In: Olaf- Axel Burow und Stefan Bornemann (Hg.): Das große Handbuch Unterricht & Erziehung in der Schule. Handlungsfeld: Unterricht & Erziehung. Köln: Carl Link Verlag, S. 345 – 360

Maslow, A. H. (1981). Motivation und Persönlichkeit. Deutschland: Rowohlt.

Meyer, D. & Hilpert, W. & Lindmeier, B. (2020): Grundlagen und Praxis inklusiver politischer Bildung. Bonn, Seite 38 – 56.

Rappaport, J. (1985): Ein Plädoyer für die Widersprüchlichkeit: Ein sozialpolitisches Konzept des ›Empowerments‹ anstelle präventiver Ansätze. In: Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis, Jg. 17., H. 2., Deutschland, S. 257 – 278.

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Wiegand-Grefe, S. (2018): Analytische Psychotherapie und ihre Modifikationen. In: Antje Gumz & Susanne Hörz-Sagstetter (Hg.): Psychodynamische Psychotherapie in der Praxis. Deutschland, Beltz Verlag, S. 674 – 684.